Abgrund > Auf dem Weg

Die Oranienstraße wirkte im vom grauen Wolkenmeer getrübten Licht auf ihn schmutziger als sonst. Wie üblich hatte er sich, unabhängig von Wetter und Jahreszeit, die Kapuze ins Gesicht gezogen und seinen Seidenschal um die Mund- und Kinnpartie gebunden.
Maximilian hatte zuvor drei Stunden geübt. Lange hatte er nicht gespielt. Er wusste, dass er bei guter Verfassung ein sehr brauchbarer Virtuose war. ´Technik und Rythmusgefühl sind die Voraussetzung alles musikalischen Könnens`, hatte er sich in Erinnerung gerufen. Somit hatte er sich entschlossen, gleich einem Anfänger, nur Tonleitern und technische Peterübungen durchzuexerzieren. Er wusste nicht, was für Musik auf ihn zukommen würde. Ronnie Schulz galt als solider, aber stilistisch sehr fantasievoller und improvisativer Musiker, der sich zwar einen unverwechselbaren Sound zugelegt hatte, bei dem man aber vorher nie wissen konnte, in welche musikalischen Kompositionen er ihn umsetzte.
´Das kleine musikalische Einmaleins als Grundlage und der Rest wird sich finden` hatte sich Maximilian gedacht.
Auf dem Weg zum Studio hielt er einen Passanten an und bat ihn um Feuer. „Selbstverständlich“ meinte der und entzündete bereitwillig sein Zippo. Nachdem Max tief inhalliert hatte, lächelte der Spender amüsiert, als ihm das Cannabisaroma in die Nase stieg und zog seiner Wege. Max machte im Maximilliangrill Halt und bestellte sich bei Hansi einen Cheeseburger mit Pommes und eine Cola. Außer ihm waren nur zwei Männer an einem der Tische.
„Weeßte Kalli, dit is so 'ne Sache mit de Menschen, die sind irjendwie aus der Natur jefallen, hab'n verjessen, wat se eijentlich sind“ sagte der Ältere von beiden, der so um die fünfzig war und durch seine langen, zum Zopf gebundenen, Haare und eine überdimensional große Nase eine markante Erscheinung bildete, zum Jüngeren, der etwa dreißig und abgesehen von seiner zu tief auf der Nase sitzenden Brille sehr unscheinbar war.
„Kiek ma', früher war'n wa in der Wildnis und wussten nich, ob wa den nächsten Winter übaleb'n. Alle war'n uff'nander anjewiesen. Klar jab it den Leitwolf, denn eener muss ja nunmal die Führung hab'n. Aba dit war imma der Stärkste, der, der sich im Übalebenskampf am besten bewährt hatte. Der durfte, ja musste dann sag'n, wo it lang jeht. Aba der hatte dann ooch die Verantwortung für alle. Und nur, wenn it allen jut jing, jing it ihm ooch jut.“
Max bekam sein Essen serviert, während er, kurz Urlaub von sich selbst nehmend, dem monologischen Gespräch lauschte.
„Und wenn er allet in die Scheiße jeritten hatte, wurde er von allen zur Sau jemacht, jejeb'nenfalls abjesetzt und 'n anderer hat dit Ruder übanomm'n. Verstehste, dit hat damals allet janz eng zusamm'n jehört. Keener konnte alleene übaleb'n, alle brauchten 'nander, ooch wenn eener der Bestimma sein musste.“
Der Jüngere schlürfte konzentriert zuhörend seinen Kaffee, während der Großnäsige sein Bier schal werden ließ und fortfuhr:
„Doch heutzutage is dit allet durch'nander jekommen. Uff der eenen Seite sind wa imma noch Herdentiere. Doch andererseits will sich nun jeda nur noch um sich kümman. Klar, keena will allene sein. Aba die Andern soll'n nur für ihn da sein, aba er nich für die Andern. Weeßte Kalli, dit jibt nur noch Häuptlinge, aba keene Indianer mehr. Besonders diese Flachwichser da ob'n, die vom Volk legitimiert sind, Häuptling zu spiel'n, aba sich 'n Scheiß für't Volk interessier'n. Im Jegenteil, eenmal Häuptling, imma Häuptling. Und wenn die ander'n, zu Indianern dekradiert'n Häuptlinge, nich spuren oder eig'ne Wünsche und Interessen anmeld'n, jibt it wat uff'n Sack. Dafür hab'n se sich die janze Übawachungstechnik einjekrallt und sich 'ne Horde schwerbewaffneta Huren zujeleecht.“
Der Jüngere bestellte sich einen neuen Kaffee, während der Ältere sein Bier noch immer nicht angerührt hatte.
„Und wir armselijen Staatskük'n hab'n dit ooch nich bessa vadient. Wir zieh'n ja schon beim jeringst'n Hauch von Jewaltandrohung den Schwanz ein. Bloß nich ufffallen, bloß nich bemerkt werd'n, bloß nich ins Visier diesa abjefuckten Spinna jerat'n. Lieba lassen wa den Nachbarn und die janze Welt zum Teufel jeh'n.“
Max hatte seine Mahlzeit verzehrt. Die Wirkung des THC machte Appetit auf mehr. ´Doch so wichtig eine gute Grundierung ist, so schädlich ist ein überfüllter Magen zum Musizieren` hatte er beschlossen. Er zahlte, grüßte zum Abschied Hansi und die beiden Kiezer und setzte lächelnd seinen Weg zum Studio fort.

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