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Overtüre


Es gibt Menschen, für die ist das Glas halb voll und es gibt die, für die es halb leer ist. Tatsache bleibt: das Glas ist zur Hälfte gefüllt. Beim Pokerspiel ist ein Blatt mit zwei Pärchen so ein halb gefülltes Glas. Yasemine entschied sich schnell dazu, dass ihr Glas halb voll ist und schob die nächsten 400 Euro in die Tischmitte. Zwei Mitspieler stiegen aus, doch Frank erhöhte sogar um weitere 200 Euro.
„Du bluffst doch nur, Süße!“
Sie hatte schon zwei drei Mal mit Frank gepokert und wusste, dass er eher vorsichtig spielt. Dennoch wollte sie das Blatt nicht aufgeben und legte die 200 Euro nach.
„Ich will sehen, Franky.“
„Ich mach dich nackig und dann will ich dich auch gern sehen“ erweiderte er und alle vier Mitspieler lachten über die zweideutige Anspielung.
Yasemine legte ausdruckslos ihr Blatt mit zwei Neunen und zwei Königen auf den Tisch. Frank lächelte und offenbarte seine drei Fünfen.
„Ich fick euch das nächste Mal, ich muss jetzt los.“ sagte Yasemine und würgte damit jeden weiteren Kommentar mit Zweideutigkeiten ab.
„Hey Jazz…“ rief Frank ihr nach „…Ronny verlässt sich auf deinen Freund, ich hoffe das war kein Fehler.“ „ja klar, kein Thema“ schnauzte sie zurück und dachte gleichzeitig „Scheiße, ich hab vergessen Max Bescheid zu geben“.
Der Plan war, dass das Pokerspiel sie ablenkt und ihr einen netten Abend verschafft. Nichts davon war bisher geschehen. Doch an einem Freitagabend gab es noch andere Möglichkeiten sich abzulenken. Yasemine wollte nicht nach Hause, sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte wenigstens für diese Nacht alles vergessen und einfach nur genießen.

*****
„Du bist 'ne geile Schlampe, ich mag dich, aber du musst jetzt gehen“ sagte Yasemine zur Rothaarigen, welche gerade zärtlich ihren Bauchnabel leckte, um sich ihrem Schoß zu nähern. Als wollte diese es nicht gehört haben, begann sie schnell, Yasemines Kitzler zu umkreisen, um die Situation für sich zu wenden. Yasemine ergriff mit beiden Händen ihren Haarschopf, zog ihren Kopf hoch und sah ihr fest in die Augen: „Raus mit dir!“
Der Onenightstand stand beleidigt auf, kleidete sich in wenigen Momenten an und verließ, ohne ein Wort oder einen Blick für Yasemine zu erübrigen, mit wütend polterndem Schritt die Appartementwohnung.
„Sorry, Süße, aber du kanntest die Absprache“, hauchte Yasemine vor sich hin, drehte sich kurz auf die Seite, um gedanklich umzuschalten. Minuten später stand sie auf, streichelte kurz den verpennten Kater und schaltete ihren Computer. ein. Unter den siebzehn neuen Nachrichten war nur eine relevant: Brüssel AC 18.00*TE.I-PF 3667. Ihre Stirn runzelte sich. „Ihr könnt mich mal; ich hab euch gesagt, dass Schluss ist“ schimpfte sie halblaut vor sich hin. In diesem Moment läutete das Telefon.
„Ja“.
„Alles verstanden?“ fragte eine raue Stimme mit leicht französischem Akzent.
„Hör zu, du Spinner! Üb Yoga und lutsch dir deine Eier!“ erregte sich ihre Stimme.
„Oh, du willst also, dass wir deiner Motivation erneut nachhelfen?“ kam es sarkastisch zurück. „Wie hieß sie noch mal? Saphira?“
Yasemine schluckte, Tränen ließen ihre Augäpfel feucht werden. Mit größter Konzentration wahrte sie ihre Stimmlage: „Ich wette, Arschloch, du hast auch Menschen, die dir wichtig sind. Ich werde...“
Bösartiges Lachen unterbrach ihr Reden. „Es geht um die Sache, mon cherie, Menschen sind ohne Bedeutung. Schade, dass du das noch nicht begriffen zu haben scheinst. Du könntest dir eine Menge Schmerz ersparen, wenn du endlich anfangen würdest, die richtigen Prioritäten zu setzen. Deine Menschenliebe macht dich verwundbar...gut für uns, solange du nicht nervst. Dein Umfeld ist observiert und die Leute langweilen sich langsam dabei. Wenn du nicht willst. na, du weißt schon mon ami, dann beweg deinen süßen türkischen Arsch und halt` dich an die Regeln.“
Er legte auf.

Yasemine sank zu Boden. Ein Tränen ergossen sich über ihre Wangen und benetzten ihren nackten Körper. „Großer Gott, konntest du mich nicht als befruchtete Eizelle in der Kanalisation verschwinden lassen?“ schluchzte sie.
Der alte träge Kater raffte sich auf und umstreifte ihre Unterschenkel. Sonst tat er dies mit lautem Mauzen, um sein Frühstück einzufordern. Heute tat er es ganz anschmiegsam. Er hatte ein Gespür für außergewöhnliche Situationen. Sie ergriff ihn, nahm ihn in die Arme und weinte in sein getigertes Fell. Nach einer Weile gab sie ihm sein Frühstück, griff zum Telefon und rief Max an, um ihm endlich zu sagen, dass er nachmittags bei Ronny Saxophon spielen muss.
„Eine gute Tat am Tag reicht“, dachte sie zynisch. Sie holte sich ein Glas Wasser und legte sich ins Bett. Ihr letzter Blick vor Einschlafen galt dem Glas Wasser auf dem Nachtisch. Sie fand noch die Kraft zu lächeln und murmelte trotzig „Mein Glas ist halb voll, ihr Säcke!“ bevor sie erschöpft einschlief.

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