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Dienstreisen



Da rührte er ihre Augen an und sprach: Euch geschehe nach eurem Glauben. (Matthäus 9,29)

***


„In Ordnung, Herr Fuchs. Wir besprechen alles Weitere hier bei uns im Büro. Bis morgen und gute Fahrt.“ Neumayer legte auf und sagte zu seinem Kollegen: „Irgendwas ist komisch an dem Kerl.“
„An wem? Dem Fuchs?“, entgegnete Marschner, der das ganze Telefongespräch mitbekommen hatte.
„Ja, der Fuchs. Fandst du ihn nicht merkwürdig heute?“
„Der ist Vertriebler, die sind doch alle so“, winkte Marschner ab.
„Ja, aber ich hab ein komisches Gefühl wegen dem Meeting morgen“, Neumayer lehnte sich zurück.
„Ach du wieder mit deinen Vorahnungen“, regte sich Marschner auf. „Hast du heute Morgen am Klo vorbeigepinkelt und im Urin was gesehen? Hattest du Kaffeesatz in deinem Filterkaffee, oder ist einfach nur Vollmond?“
„Wer freut sich schon so sehr auf eine Dienstreise? Naja - wir werden ja sehen“, sagte Neumayer und beendete damit das Gespräch.

***


Michael Fuchs stand um 4:30 Uhr auf und kochte als erstes Kaffee. Während er seinen Pott Kaffee trank, las er online ein paar Nachrichten. Er achtete besonders auf Verkehrshinweise, konnte aber nichts Auffälliges den Meldungen entnehmen. Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, ging er unter die Dusche und fing an zu singen: „Dienstreisen, Dienstreisen, Dienstreisen ist mein Le-e-e-eben“.

Der Novembermorgen zeigte sich von seiner kalten Seite. Beim Scheibenfreikratzen überlegte Fuchs, wie der Tag ablaufen könnte: ‚Nürnberg, das sind von hier circa fünfhundert Kilometer. Wenn die Autobahn frei ist, kann ich mir vor dem Meeting noch ein Frühstück gönnen‘. Er stieg ein, fuhr auf die Berliner Stadtautobahn und machte das Radio an. Obwohl er den Weg kannte, programmierte er das Navigationsgerät. Nach einer Weile erschien auf dem Display: „Ankunft: 08:52“, was ihn beruhigte, da er über eine Stunde Puffer hatte.

Als er auf die A9 fuhr, dachte er zufrieden: ‚Jetzt nur noch geradeaus und dann bei Nürnberg rechts abbiegen‘.

Nach einer halben Stunde meldete sich die weibliche Stimme des Navigationsgerätes und verkündete: „Eine neue Route wird berechnet.“ Und gleich darauf: „In zehn Kilometern an der Ausfahrt rechts abbiegen.“ Im Display erschien: „Ankunft: 09:58“
‚Muss das sein‘, dachte er. ‚Ich habe noch dreihundert Kilometer nach Nürnberg.‘ Er checkte die Verkehrsmeldungen – keine Auffälligkeiten. In den Augenwinkeln sah er ein Hinweisschild, auf dem „letzte Ausfahrt“ stand. Er überlegte, wie das gemeint wäre. In den Verkehrsmeldungen stand nichts davon, dass die Autobahn gesperrt sei. Wenn es ginge, würde er einfach weiterfahren.

„In dreitausend Metern an der Ausfahrt rechts abbiegen“, nervte das Navigationsgerät.
Diesmal sah er das Hinweisschild deutlich: „Dessau-Ost, 3000 Meter, letzte Ausfahrt.“ Er überholte einen LKW und sah vor ihm ein Auto. ‚Nach Stau sieht es nicht aus‘, dachte er.
Ein weiteres Hinweisschild: „Achtung: letzte Ausfahrt in 1500 Metern.“
Fuchs wurde nervös. Er hatte keine Lust, eine Umleitung zu fahren.

„Dessau-Ost, 1000 Meter“
Er ging vom Gas, wurde langsamer und wunderte sich, dass er noch keine Warn- oder Absperrschilder sah.

Ein weiteres Schild: „Letzte Ausfahrt, 300 Meter“, das Auto vor ihm bog ab.
Er sah keine Absperrung. Die Autobahn war frei.
„Jetzt abbiegen“, ertönte das Navigationsgerät.
Fuchs gab Gas und fuhr an der letzten Abfahrt vorbei. „Na geht doch“, sagte er laut, als er seinen Dienstwagen wieder auf 130 Stundenkilometer beschleunigte. Er sah eine Brücke und der Nebel wurde etwas dichter.

Nach fünf Minuten begann der Radiosender aus Berlin zu rauschen. Fuchs drückte den Sendersuchlauf und sah dabei auf die Anzeige des Navigationsgeräts: „Ankunft: - -:- -“. Der Sendersuchlauf endete dort, wo er begonnen hatte, und das Radio rauschte.
„Bist du jetzt böse mit mir?“, fragte er und erwartete keine Antwort. Er schaltete das Radio aus und drückte die Taste, welche die letzte Anweisung des Navigationsgeräts wiederholte.
„Geradeaus fahren“, antwortete es aus dem Lautsprecher.
Der Nebel nahm zu, so dass er kaum einhundert Meter nach vorn schauen konnte. Er ging etwas vom Gas, schaltete seine Nebelscheinwerfer ein und fuhr weiter.

„WC, 3000 Meter“, las er und freute sich auf eine Pinkelpause.

Sein Auto war das einzige auf dem Rastplatz, so dass er direkt vor dem Toilettenhäuschen halten konnte. Das Pissoir stank. Er hielt die Luft an. Als er wieder atmen musste, atmete er durch den Mund ein und bekam den Geschmack von Urin auf die Zunge. Wieder draußen, stellte er sich vor sein Auto und sog die angenehm frische Luft soweit es ging in die Lunge. Er schloss die Augen und genoss die Stille. Wieso war es eigentlich so still? Er öffnete die Augen und schaute sich um. Die Konturen der Bäume schimmerten im dichten Nebel. Nur das leise Rauschen der Blätter war zu hören. Sonst nichts. Kein Auto, kein Vogel, kein Flugzeug. Stille. Mit einem mulmigen Gefühl fuhr er weiter.

Das mulmige Gefühl verschwand, als sich nach ein paar Kilometern der Nebel lichtete. Die Sonne vertrieb den Nebel und präsentierte einen strahlend blauen Himmel. ‚So macht Autofahren Spaß‘, dachte er, als er wieder seine Reisegeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern fuhr. Seine Gedanken widmeten sich den kommenden Meetings in den nächsten Tagen. Er ging im Kopf die Agenden durch und fuhr gedankenversunken weiter.

Kurz vor neun Uhr wählte er die Nummer seines Büros, um nachzufragen, ob es weitere Neuigkeiten gebe. Die Freisprechanlage blieb stumm und er bemerkte, dass sein Mobiltelefon keinen Empfang hatte. Gegen neun sollte er laut Navigationsgerät doch in Nürnberg ankommen. Auf der Anzeige stand weiterhin: „Ankunft: - -:- -“. Wo war er? Er versuchte sich zu erinnern, an welcher Ausfahrt er als letztes vorbeigefahren war. ‚Dessau-Ost, letzte Ausfahrt. Aber das war vor zwei Stunden‘, dachte er. Das mulmige Gefühl war wieder da.

Er hielt am nächsten Rastplatz, stieg aus und wieder war er allein. Das Telefon hatte immer noch keinen Empfang. Er ging durch den Grünstreifen zur Leitplanke der Autobahn. Kein Auto fuhr an ihm vorbei. Es war gar kein Auto zu sehen, selbst auf der Gegenfahrbahn nicht. „Wo ist die versteckte Kamera?“, fragte er laut in die Stille und schaute sich um. Er konnte nur die Autobahn, das Toilettenhäuschen und Bäume sehen. Enttäuscht stieg er ins Auto und fuhr weiter.

Seine volle Aufmerksamkeit galt den Schildern am Straßenrand. Er wollte keine Ausfahrt mehr verpassen. Um zehn Uhr sollte er beim Kunden in Nürnberg sein. Wo war er? Das Navigationsgerät zeigte stur an, dass er geradeaus fahren sollte. Er konnte nicht falsch abgebogen sein. „Wie denn auch? Es gibt ja auch keine Ausfahrten mehr“, beantwortete er laut seine Gedanken und setzte ein falsches Lächeln auf. Unbewusst gab er Gas und wählte die Nummer vom Kunden: Das Telefon blieb stumm. „Das gibt’s doch nicht! Ich werde verarscht, oder? Kein Netz. Keine Ausfahrt. Keine Autos. Kein Navi. Hallo? Wo ist die versteckte Kamera? Klaus? Steckst du dahinter? Hallo? Hört mich jemand? Ihr habt gewonnen. Der Streich ist euch wirklich gelungen. Und jetzt hört auf mit dem Scheiß! Ja?“ Als er seinen Monolog beendet hatte, war das eintönige Rauschen seines fahrenden Autos zu hören.

Nach zehn Uhr wurde er wieder ruhiger, da er das Meeting in Nürnberg für sich abgeschrieben hatte.

Ein Stunde später sah er eine Tankstelle und hielt an Tanksäule drei. „Na endlich“, entfuhr es ihm. Er stieg aus und konnte niemanden in der Tankstelle entdecken. Als er die Zapfpistole in den Tank steckte, bemerkte er einen kleinen Monitor an der Zapfsäule, auf dem stand: „Bitte führe Sie Ihre Kredit- oder EC-Karte in den Kartenleser ein.“ Er holte die Firmenkreditkarte aus dem Portemonnaie und der Automat akzeptierte das Zahlungsmittel. ‚Müssen wir wirklich alles von Amerika übernehmen? Jetzt also auch noch die automatischen Tankstellen.‘ Nachdem er vollgetankt hatte entnahm er seine Karte und ging zum Tankstellenhaus. Der Eingang war verschlossen. Ein Snackautomat bat blinkend um Benutzung. Daneben war eine Notrufsäule. Fuchs zögerte kurz und drückte dann den Notfallknopf.
„Gutten Tagg. Mein Name ist Radgid Mhuhandi, wie kann ich Ihnen helfen“, meldete sich eine Stimme nach kurzer Zeit.
„Eine menschliche Stimme – dem Himmel sei Dank. Mein Name ist Fuchs. Können Sie mir sagen, wo ich mich befinde?“, frage Fuchs erleichtert.
„Selbstverständlig“, erklang es aus dem Lautsprecher. „Sie sind auf der Autobahntankstelle Nummer 572.“
„Nein, das meinte ich nicht. Was ist die nächste Abfahrt?“, fragte er.
„Die nägste Tankstelle ist Nummer 173 und kommt in 245 Kilomettern.“
„Das gibt’s doch nicht“, brummte Fuchs genervt.
„Ist die Tanksäule defekt?“, frage der Servicemitarbeiter.
„Die funktioniert“, antwortete er.
„Was habben Sie für einen Notfall?“ fragte Mhunadi weiter.
„Ich habe keinen Notfall. Ich will nur wissen, …“
„Entschuldigung, dann kann ich Ihnen leider nicht weiter helfen. Wir sind nur für Probleme der Tankstelle und Notfälle zuständig. Ich wünsche Ihnen eine gutte Faht.“ Klick.
Fuchs konnte es nicht fassen und stand wie angewurzelt da. Er drückte den Notfallknopf erneut.
„Sehr geehtter Herr Fuggs, bitte drücken Sie diese Taste nur in Notfällen. Vielen Dank“, klick.

Langsam ging Fuchs zu seinem Wagen. Als er einsteigen wollte, hörte er ein lauter werdendes Motorengeräusch und rannte zur Autobahn. „Hallo“, rief er laut. Doch noch ehe er die Leitplanke erreicht hatte, sah er den Porsche vorbei rasen. ‚Ich bin also doch nicht ganz allein‘, dachte er und fasste wieder Mut. Festen Schrittes ging er zur Tankstelle. Er holte sich ein Schinkensandwich aus dem Snackautomaten und aß es in der Sonne.

Frisch und ausgeruht stieg Fuchs ins Auto, fuhr wieder auf die Autobahn und sang: „Dienstreisen, Dienstreisen, Dienstreisen ist mein Le-e-e-eben“.

***


„Herr Neumayer“, sagte Fräulein Liebig, als sie den Meetingraum betrat „Ich habe Herrn Fuchs zwei Mal angerufen und ihm etwas auf den AB gesprochen. Bei seiner Firma habe ich auch angerufen, aber dort weiß niemand etwas. Kann ich noch etwas für Sie tun?“
„Nein danke, das ist erstmal alles“, Neumayer schaute zum Fenster hinaus.
„Wusste ich doch, dass der Typ uns hängen lässt“, grunzte Marschner.
Neumayer drehte sich um: „Ich glaube, das ist etwas anderes.“
„Was anderes?“, prustete Marschner. „Der versetzt uns einfach, ohne abzusagen. Das war seine letzte Chance. Wenn ich den Penner nochmal sehe, …“
„Wirst du nicht“, beruhigte ihn Neumayer. „Der Fuchs ist weg.“
„Wie? Weg?“
„Du sagst doch selber, das war seine letzte Chance“, Neumayer setzte sich. „Ich denke, er hat die Ausfahrt verpasst.“

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