Ernst Föhlich > Zeitenwende

Zeitenwende



Welch großartige Zahl ist doch die Vier. Sie erscheint immer wieder symbolträchtig und bedeutungsschwer.
Wir durchleben jährlich vier Jahreszeiten; wenn auch nur noch kalendarisch, denn klimatechnisch sind wir hier etwas durcheinander gekommen. Vier Musketiere machten Roman- und Filmgeschichte. Vier Evangelien finden sich im neuen Testament und damit zusammenhängend feiern wir vier Adventssonntage bis zur großen Bescherung. Und sollte, wie vor einigen Jahrzehnten, weltpolitisch alles gegen den Baum laufen, finden sich vier alliierte Mächte, um wieder aufzuräumen. Ja, die Vier hat was für sich.
Doch was geschieht, wenn diese vier sich verzehnfacht? Dann scheint es problematisch zu werden. Vierzig Jahre musste das Volk Israel sich durch die Wüste schleppen. Ali Baba musste es mit vierzig Räubern aufnehmen. Vierzig Jahre war Deutschland geteilt. Der erste Marathonläufer, der den Sieg der Athener über die Perser vermeldete, brach nach den gut vierzig Kilometern tot zusammen.
Und schlimmer noch als diese ganzen unangenehmen Angelegenheiten: ICH bin jetzt vierzig Jahre alt. Der Neandertaler war, falls er es überhaupt schaffte, mit vierzig biologisch ein Greis. In einer Gesellschaft wie heute, die sich jugendwahnhaft definiert, hat sich bezüglich des Neandertalers nicht viel verändert. Biologisch mit damals nicht vergleichbar, ist man heute ein gesellschaftlich erklärter Greis. Bis vierzig hast du es geschafft oder du hast verloren. So die Devise, die sich in unser Bewusstsein eingebrannt hat. Da die vierzig die Grenze bildet, wo man vom Anfang des Endes spricht, sollte der Mensch bis dahin sein Ende erfolgreich vorbereitet haben, sodass er solide und sorgenfrei abscheiden kann. Oder aber er tut sich und seiner Umwelt den Gefallen, mit einem Herzinfarkt oder einer schnell voranschreitenden, nicht heilbaren Krankheit zu verenden. Jedenfalls schnell, um sich ein zukunftsloses Dahinsiechen und der Umwelt gekünsteltes Mitleid zu ersparen.
Bis zur vierzig sollte es der Mensch geschafft haben, sich mit reichhaltigen Gütern zu umgeben, um den Verlust jugendlicher Attraktivität, die dünner werdenden schwindenden Haare oder die mittlerweile überflüssigen zusätzlichen Pfunde auszugleichen. Dann ist man erotisch - trotz dieser Verschleißerscheinungen. Die besonders Cleveren sind inzwischen mit Ihrem plastischen Chirurgen per du. Mit einer Quelle scheinbar ewiger Jugend, die in der Lage ist, einen immer wieder neu in die zwanziger zurück zu katapultieren, sollte man sich gut verstehen, sie hegen, pflegen und finanzieren.
Sollte dies alles nicht so geklappt haben, muss man sich mit einer Aura unersetzbarer Bedeutsamkeit umgeben haben, die einem ja auch so etwas wie Ewigkeitscharakter verleiht.
Dann werden graue Haare, Hautunebenheiten, die sich gemächlich zu tiefen Furchen entwickeln, und die sich langsam einschleichenden Schrulligkeiten als Lohn der Weisheit, als das Ergebnis eines schöpferischen Lebens betrachtet. Doch, auch Bedeutsamkeit macht erotisch.
Die Übrigen, welche nicht zu den oben beschrieben offiziell zum alt werden Legitimierten gehören, sollten sich bitte an angewiesene Regel halten. Wer nicht verhaltenstechnisch die Konjunktur zur Hochkonjunktur reifen lässt und nicht in der Lage ist, sich gesellschaftspolitisch unaufgebbar wichtig zu machen, sollte wenigstens so viel Arsch in der Hose haben, sich ernsthaft in seiner Existenzberechtigung infrage stellen zu lassen.
Dummerweise gibt es aber diesen Haufen von Uneinsichtigen und Verweigerern, die meinen, sich dieser Logik entziehen zu können.
Da fällt mir Simone ein. Eine Frau von Ende vierzig, die nach Jahren massivster Interessenkonflikte ihren Mann verließ, sich erstmals eine Wohnung für sich allein nahm und heute frech behauptet, sie hätte mit vierzig angefangen zu leben.
Oder Samy, Angehöriger eines Naturstammes Afrikas. Nachdem er drei Monate in Europa gelebt hatte, fragte man ihn, wie er Land und Leute so empfunden habe. Seine Antwort war positiv, doch zwei Dinge, meinte er, habe er nicht ver- standen. Zum ersten, wie wir es aushalten, uns jeden Tag die ganze Welt vor Augen führen zu lassen, ohne bei so viel Negativinput durchzudrehen. Zum zweiten hätte er unser Verständnis für Zeit nicht auf die Reihe bekommen. Er könne schlichtweg nicht verstehen, wie sich Menschen so von Zahlen leiten lassen können. Bei ihm zuhause wisse niemand, wie alt er ist. Natürlich merke auch dort jeder, dass er nicht jünger wird, aber das sei für niemanden ein Problem, weil das Leben ein großes Geschenk sei, dass man jede Stunde, so gut wie es nur geht, lebt und liebt. Wir Europäer zählen die Jahre, befinden irgendwann, dass wir alt sind, entwickeln furchtbare Ängste, legen uns nieder und sterben. Für ihn sei diese Einstellung lebensfeindlich und dumm.
Sicher, der hat gut Reden. Auch wenn seinem Volk kaum so etwas wie zivilisierter Luxus bekannt ist, so ist doch kein Grund zur Angst. Denn selbst wenn das Leben seinen Tribut mit schwindenden Kräften und Krankheit fordert, ist jeder in der Stammesfamilie aufgehoben und versorgt. Anonym und unbemerkt hinter irgendeinem Gemäuer dahin zu siechen und einsam zu krepieren, ist Samy fremd.
Dann war da noch Herr K. Der hatte es sich nach steiler Karriere mit seiner Gesundheit und Familie versaut. Nachdem er gnädigerweise mit dem Tod eine Terminverschiebung vereinbaren konnte, trat er als aktives Mitglied in den Naturschutzbund ein und fing an Klavier zu lernen. Erwähnt werden muss noch, dass Herr K. um die sechzig ist. Da soll mich ernsthaft eine Vierzig bedrohen? Nee, und irgendwie sanft schleicht sich da nämlich auch so ein seltsames Gefühl ein, dass man sich so endgültig von letzten Eierschalen befreien könnte. Leute, und jedem ist der Gedanke wohl vertraut, erzählen ja gern, sie wären gern noch mal in einem bestimmten früheren Alter mit ihrem gegenwärtigen Erkenntnisstand. Warum also nicht wie ein Kind ohne Eierschalen drauf los leben. Lass die Falten lachen und die Knochen quietschen. Mit achtzig kann man sich ja noch mal erneut in Zäsur begeben...

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