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Irgendwann II


Ariel war selbst für einen Engel groß gebaut. Er war stämmig, muskulös und seine langen Haare erinnerten viele an Samson. Nur dass Ariels Haare blond waren. Er war ein Schutzengel der alten Schule und mochte sein traditionell weißes Gewand.
Eigentlich war Ariel ein weit verbreiteter Name unter Engeln. Doch als Clementine die deutschen Fernsehbildschirme mit ihrer forschen Art für das Waschmittel „Ariel“ eroberte, war er es, der alle dummen Sprüche abbekam. Da er als großer, altmodischer Engel mit weißem Gewand umherging, wurde er nur noch „Ariel, der weiße Riese“ genannt. Der Mr. Proper des Himmels, welcher die Dämonen im Visier hat. Das AS(s) im Kampf gegen die Hölle. Eigentlich störte es ihn nicht, da er schon immer ein Einzelgänger war. Doch diese Albernheiten machten ihn sogar zum Außenseiter.
Sein nächster Auftrag war, einem Jungen mit Liebeskummer etwas Hoffnung zuzusprechen. Es war ein Auftrag „für Zwischendurch“. Er hatte noch etwas Zeit und so schlenderte er durch die Straßen und genoss den schönen sonnigen Tag. Aus einem abseits gelegenen Café hörte er eine leise jämmerliche Stimme. Die Stimme war gefüllt mit Verzweiflung und Hass. Seine Neugier steuerte ihn in Richtung des Cafés. Eigentlich wollte er nur einen Blick auf die jämmerliche Gestalt werfen und weitergehen. Doch dann vernahm er die Worte „Oh Mächtiger, bitte hilf mir!“. Ein Gebet! Jemand benötigt Hilfe. Ohne zu überlegen trat Ariel in das Café ein. Ein weinender kleiner Mann im grauen Anzug saß mit dem Rücken zu ihm an einem Tisch. Vor ihm eine halbvolle Tasse mit kaltem, abgestandenem Milchkaffee. Ariel legte dem Mann behutsam die Hand auf die Schulter. Er beugte sich näher heran und wollte ihm einige mutmachende Worte ins Ohr flüstern. Der Mann drehte sich um und Ariel erkannte seinen Gegner, den Dämon Bo, der ihn lächelnd mit seinen Katzenaugen ansah. Von hinten wurde Ariel ein Sack über den Kopf gestülpt. Er war so überrascht, dass er kaum Gegenwehr leistete, als ihm Arme, Beine und Flügel gefesselt wurden. Nun wurde ihm klar, warum so viel Verzweiflung und Hass in der jammernden Stimme lag. Drei Dämonen hielten ihn fest. Einen Moment später fühlte er einen kalten Windstoß. Der Sack über seinem Kopf wurde kurz vom Wind angehoben. Ariel sah, dass er sich auf einem Berg nahe einem Abgrund befand.
Engel wie Dämonen sind Geistwesen und daher nicht an physische Gesetze wie Raum und Zeit gebunden. Bo und seine Freunde machten sich dies zu Nutzen und schafften Ariel augenblicklich in die Alpen. Er sollte fallen – so wie sie einst gefallen waren. Doch damit Ariel nicht seinerseits seine Kräfte anwenden konnte, traten sie ihm zuerst in den Unterleib. Anschließend verpasste Bo ihm zwei harte Tritte gegen den Kopf. Ariel wurde schwarz vor Augen. Verschwommen merkte er, wie er in den Abgrund hinunter geschubst wurde. Der Wind blies ihm den Sack vom Kopf. Doch die Tritte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Ariel konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er stürzte in die Kluft hinab. Mit aller Kraft spannte er sich gegen die Fesseln und seine linke Hand löste sich. Er versuchte sich mit der Hand an der Felswand festzuhalten. Die Wucht des Falls war zu groß, um seinen Körper mit einer Hand zu halten. Die Hand blieb in einer Felsspalte hängen und riss einfach ab. Er bemühte sich den Aufprall etwas abzufangen. Das gelang ihm auch ganz gut – aber ein Flügel brach dennoch unter der Wucht der Landung.
Ariel machte sich keine Sorgen um seine Verletzungen. Engel waren nie lange krank, oder besser „Kaputt“. Beim nächsten Erholungszyklus, nach seinem Auftrag, würde er wieder geheilt werden, da hatte er keine Zweifel. Aber dieser kleine fette Dämon hatte ihn nicht ohne Grund beseitigt – sein Auftrag war in Gefahr. Er ärgerte sich über sich selbst, wusste er doch, dass es keine unwichtigen Aufträge gab.
Der Aufstieg mit einer Hand war beschwerlich und mühsam. Seine mentalen Kräfte waren stark eingeschränkt. Bo hatte ihn anscheinend nicht nur körperlich, sondern auch geistig gefesselt.
Sein Auftrag in Berlin schien endlos weit entfernt zu sein, doch er wusste, dass er nicht endlos Zeit hatte, seinen Auftrag zu erfüllen. Als er endlich den oberen Rand des Abgrundes erreichte ging er sofort in Richtung Zivilisation. Das Laufen ging erstaunlich gut und er kam schnell voran. Doch bis Berlin würde er es zu Fuß nicht schaffen. Daher lief er zu Familie Neumeier im bayrischen Bad Kohlgrub.
Matthias Neumeier studierte Philosophie in Berlin und besuchte gerade seine Eltern in Bayern. In der kommenden Woche wollte er alle seine alten Freunde besuchen und eine gemütliche Woche „daheim“ verbringen. Als Ariel an diesem sonnigen Sonntag bei den Neumeiers ankam und sich erschöpft in den Sessel fallen ließ, bereitete sich die Familie schon auf das Abendessen vor. Die Eltern von Matthias wirbelten in der Küche, sein Bruder trieb seine zwei Töchter an, die Spielsachen wieder einzupacken und Matthias selbst unterhielt sich mit seiner Schwägerin. Die Familienidylle war so perfekt, dass Ariel an sein Vorhaben, heute noch mit Matthias nach Berlin aufzubrechen, nicht mehr glauben konnte.
Beim Abendessen waren die Nichten von Matthias so unruhig, dass sie schon nach kurzer Zeit zum Spielen wieder aufstehen durften. Nach dem auch seine Schwägerin aufgestanden war um einen Streit der Kinder zu schlichten, machte Matthias eine beiläufige Bemerkung über diesen Sachverhalt. Sein Bruder fühlte sich in seiner Kindererziehung derart angegriffen, dass er genervt antwortete. Ariel wurde auf die immer aggressiver werdende Diskussion aufmerksam, als Matthias die gesamte Familie gegen sich hatte. Die Situation spitzte sich zu und Ariel unterstütze Matthias so gut er konnte. Am Ende war Matthias der schwule, nichtsnutzige Studentenparasit, welcher die „Sau-Preußen“ mehr liebte als die eigene Familie. Obwohl nichts davon der Wahrheit entsprach, dementierte er auch nichts. In der Hoffnung, seine Eltern würden doch noch einen Funken Zuneigung für ihn haben, beendete Matthias das Gespräch mit den Worten "dann ist es wohl besser, ich fahre gleich wieder nach Berlin zurück." Und niemand wollte an diesem Abend einlenken. Seine Eltern sagten wie aus einem Mund "dann ist das wohl besser so".
Am späten Abend verließ Matthias mit einem "lebt wohl", zwei Koffern und nichtsahnend, mit dem angeschlagenem Engel Ariel sein Elternhaus. Die letzte günstige Verbindung hatten sie knapp verpasst. Nun mussten sie noch eine halbe Stunde warten um mit Regionalzügen nach München zu kommen. Mitten in der Nacht waren sie endlich am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Aber der nächste ICE nach Berlin ging erst am nächsten Morgen. Matthias entschied sich lieber mehr als drei Stunden mit einem Bummelzug nach Nürnberg zu fahren, als auf dem Bahnhof knapp sieben Stunden totschlagen zu müssen.
Für Ariel war das Zugfahren neu. Er genoss es sogar ein wenig. Und er schaffte es, Matthias immer wieder Mut zuzusprechen, dass es das Richtige sei, jetzt nach Berlin zu fahren.
Montagvormittag kamen sie endlich am Berliner Hauptbahnhof an. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln brauchten sie noch eine weitere halbe Stunde nach Hause.
Matthias bemerkte schon beim Öffnen der Wohnungstür, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Er sah eine umgekippte Teetasse auf dem Küchentisch. Der Tee auf dem Boden war noch nicht ganz angetrocknet. Ein zerbrochener Teller, der offensichtlich an die Wand geworfen wurde.
Wo war sein Mitbewohner?
Ariel stürmte in Bo’s Zimmer und riss den feiernden Dämon zu Boden.
Der Dämon fauchte Ariel an, sah die Entschlossenheit des Engels und verschwand.
Matthias sah Bo als Häufchen Elend in der Ecke liegen. Sein Mitbewohner war Leichenblass und hatte aufgekratzte Arme, die leicht bluteten.
„Bo?“
Bo bewegte sich nicht - keine Reaktion. Er bekam Angst.
„BO!!!“
Irgendetwas regte sich in Bo. Aber eine echte Reaktion sah anders aus. Apathisch starrte Bo nur ins Leere.
„Robert Derliner!! Hörst du mich?“
Bo machte die Augen zu. Nachdem er sie öffnete, starrten sie nicht mehr ins Leere. Seine Augen suchten Dinge. Endlich sah er Matthias.
„Hey Bo. Ist alles in Ordnung mit Dir“
Leicht verwirrt antwortete er „j..j…ja.“
Ariel war erleichtert, gerade noch rechtzeitig gekommen zu sein. Nun musste er Bo noch eine Hilfestellung geben. Etwas, was ihm den Dämon Bo erträglicher werden ließ. Etwas, das ihm Hoffnung geben würde.
Sanft legte er seine Hand auf Bo’s Schulter und flüsterte ihm ein Wort ins Ohr:
„Himmelblau“.

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