Abgrund > Traumstart

Die Straße befremdete Maximilian, obwohl sie ihm vertraut erschien. Sie war lichtdurchflutet, ohne zu blenden. Die Farben der Häuser, Pflanzen und Bäume wirkten aufdringlich, als hätte man sie zu dick aufgetragen. Selbst das Blau des Himmels leuchtete surreal. Plötzlich erkannte er den Ort, an dem er sich befand, wusste wohin er wollte. Die Straße entlang, zur Kirche, direkt zu ihm. Er fühlte Hass.
Zielgerichtet schritt er voran. Seine rechte Hand umfasste noch fester den Gegenstand, den er bei sich trug. An sich herabblickend sah er das alte Gewehr seines schon lange verstorbenen Vaters. Der altbewährte Drilling. Er hätte gemeint, der Weg wäre weiter gewesen. Doch plötzlich sah er sie schon wenige Meter vor sich, die Johanneskirche. Noch einige eilige Schritte und seine linke Hand umfasste die Klinke der schweren Kirchentür. Die sonst Widerstand bietende Tür öffnete sich wie von selbst. Er trat ein. Für einen Moment hielt er inne und sah durch den etwa drei bis vier Meter langen Eingangsflur durch die Scheiben der Flügeltüren in den Gottesdienstsaal: Gefüllte Kirchenbänke. Er trat dicht heran. Da erblickte er ihn, Pastor Daniel. Mit der rechten Hand gestikulierend stand er vor dem Altartisch. Aufsteigende Wut erfasste Maximilian. Ein kurzes Mal noch betrachtete er das „Publikum“, das mit geneigten Köpfen gespannt zuhörte. „Ihr Blindschleichen!“ entfuhr es ihm. Er umfasste das Gewehr mit beiden Händen, stieß die Flügeltüren auf, trat ohne Zögern in den Mittelgang und schoss. Der erste Schuss war nach vorn gerichtet, aber ansonsten ziellos. Zunächst pure Aggressionsentladung. Ein kollektives Aufschreien und anhaltendes, fast ausnahmslos weibliches, Kreischen erfüllte den Kirchensaal. Viele warfen sich in gegenseitiger Bedrängung zwischen den engen Stuhlreihen zu Boden, verzweifelt hoffend das Gestühl würde ihnen Schutz bieten; eine jämmerliche Hoffnung. Andere, meist an den Außenrändern der Sitzreihen, liefen panisch und orientierungslos als lebende Zielscheiben durch den Raum. Ein simpler Amokläufer hätte leichte Beute gemacht. Doch er hatte nur ein Ziel; den, wie er empfand, Satan in Menschengestalt, welcher wie erstarrt da stand und ihn ungläubig anblickte. Maximilian legte zum zweiten Mal an, diesmal gezielt, und schoss erneut. Der Pastor warf seinen zirka eins neunzig langen Körper linkswärts zu Boden. Das Geschoss zertrümmerte die Fußgelenke des corpus christianum, das Kreuz fiel vornüber auf den Altartisch, stieß die brennenden Kerzen beiseite und begrub die aufgeschlagene, in Leder gebundene, Elberfelder Goldschnittbibel unter sich. Kurz irritiert, durch den Absturz des Kruzifix, dachte er zynisch ´ich steh auf die Lutherbibel` und setzte zum dritten Schuss an. Sein Erzfeind hatte sich mittlerweile aufgerappelt und stolperte fliehend in Richtung Sakristei. Er legte an und betätigte den Abzug.
Unmittelbar nach dem Knall des Schusses vernahm Maximilian leise im Hintergrund ein Telefonklingeln.
In den Rücken getroffen brach der Kirchenmann zusammen und blieb reglos liegen.
Das Klingeln kehrte lauter zurück.
Befriedigt senkte er die Waffe. Eine ungeheure Erleichterung durchzog seinen Körper.
Das dritte Klingeln rasselte laut in seinen Ohren und weckte ihn unbarmherzig.
Zunächst irritiert, dann bitter enttäuscht darüber, aus seinem Traum gerissen worden zu sein, griff er instinktiv mit der rechten Hand zum Handy, das traditionell im linken vorderen Eck des Tisches lag. „Ja“ schnauzte er.
„Hi Max, du Ekelpaket, hier ist deine wahrscheinlich einzige Freundin“, antwortete eine angenehme, doch sehr energische Stimme.
„Hi Jazz, sorry, aber ist 'n beschissenes Timing für deinen Anruf.“
„Hm, hast du mal wieder selbstmittleidig 'ne selbstmittleidige Muschi abgeschleppt, um dein Elend über deinen Schwanz zu kompensieren?“
„Nee, du blöde Schnepfe, ich habe gerade das Arschloch getötet und du hast mich aus dem Genuss dieser unendlichen Befriedigung gerissen.“ Er griff zum Aschenbecher, nahm mit Daumen und Zeigefinger den zur Hälfte abgerauchten Joint und begann nervös den vollgekramten Tisch nach Streichhölzern abzutasten.
„Dein Schmerz frisst dich auf und dein Hass erschafft in deiner Fantasie Horrorfilme. Komm endlich runter, du dumme Nuss“, antwortete Yasemine mit fast beschwörend gesenkter Stimme.
„Erzähl das nicht mir oder meiner Fantasie, sondern meinem Traummanager“, zischte er zurück, nachdem er, fast schon verzweifelt, zwischen leeren Tabakbeuteln und mit Essensresten bedecktem Geschirr eine Schachtel mit noch einem einzigen Streichholz zu greifen bekam. ´Gott ist gnädig` dachte er, als das Streichholz, erst nachdem das Rauchwerk entzündet war, erlosch. Er nahm einen tiefen Zug.
„Man, dein Unterbewusstsein ist von so dämlichen Dämonen behaust, ich muss wohl mal mit einer siebenriemigen Peitsche vorbeikommen; du weißt, die Tempelaustreibung gehört zu meinen Lieblingsgeschichten.“
„Ich kenne deine sadistische Ader, die wohl auch der Anlass dafür ist, dass du mich gerade aus dem Paradies vertrieben hast. Welche üble Mitteilung soll mir heute den Tag verderben, allein schon dadurch, dass du zu einer Herzinfarkt gefährdenden Zeit anrufst?“
„Du wirst mich noch mal heilig sprechen, du missratene Gestalt, die man besser kastrieren sollte. Ronnie Schulz nimmt heute auf und benötigt für zwei Songs 'nen Saxophoner und ich war so blöd, dich zu vermitteln. Und da ich weiß, dass du nicht aus dem Arsch kommst, musste ich deinen Tod riskieren und dich fünf Stunden vor deiner Zeit anrufen. Die Produktion beginnt um eins und du musst fit sein. Gage wie üblich, vier bis sechs Stunden. Denk dran, du brauchst den Schotter.“
„In Ordnung Tuse, klingt gut, aus Dankbarkeit werde ich dich vor Allah in den Status eines Mannes erheben.“
„Das hat Allahs Sohn bereits getan, sieh du lieber zu, dass du von Allah noch als Mann ernst genommen wirst- deine postpubertären Anwandlungen tragen nicht unbedingt dazu bei“, spöttelte sie zurück. „Du bist mir was schuldig, mach dich frisch, fang an zu üben.“ Sie legte auf.
Er zog am Joint, doch der war inzwischen erloschen. Alles Suchen blieb ergebnislos. Kein Feuer. ´Du laberst zu viel` dachte er, ohne genau zu wissen, ob er sich oder seine schicksalhafte Freundin meinte. Er legte das Teil auf die Ablage des Aschenbechers und stand auf. Der Koffer war verstaubt. Wehmütig packte er sein Instrument aus und betrachtete es von allen Seiten. „Du hast dich gar nicht verändert“ sprach er wie zu einem guten Freund, den man lange nicht gesehen hatte. Er blies, wie um zu testen ob noch ´Leben` in dem Gerät steckt, einen kräftigen A-Ton in sein Altsaxophon, legte es auf das Sofa und ging duschen. Auf dem Weg ins Bad rief er laut „ein geiler Traum!“